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Title
Georg Wilhelm Stein d.Ä. (1737–1803) in Kassel. Ein früher Repräsentant der akademischen Geburtsmedizin


Author(s)
Lükewille, Nina
Series
Beiträge zur Wissenschafts- und Medizingeschichte 8
Published
Extent
271 S.
Price
€ 56,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jürgen Schlumbohm, Göttingen

Das Buch, hervorgegangen aus einer Marburger medizinischen Dissertation und veröffentlicht in der Reihe Beiträge zur Wissenschafts- und Medizingeschichte, behandelt einen frühen Vertreter der männlich-ärztlichen Geburtshilfe. Georg Wilhelm Stein wurde von manchen Zeitgenossen als „größter jetzt lebender Geburtshelfer“ geschätzt (S. 237). Im Rückblick kann er als der einflussreichste deutsche Vertreter dieses Fachs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gelten – einer Periode, als männliche Mediziner das Feld zu besetzen begannen, das bis dahin fast ausschließlich von Frauen, Hebammen, bestellt wurde.

Behandelt werden sowohl die Veröffentlichungen Steins als auch die von ihm erfundenen Instrumente und Geräte. Soweit die Quellen reichen, werden zudem seine geburtshilfliche Praxis sowie sein soziales Umfeld und seine Persönlichkeit dargestellt. Die Arbeit stützt sich auf gedruckte und archivalische Quellen; die deutschsprachige Forschungsliteratur wird ebenfalls herangezogen, zur Ergänzung und zum Vergleich mit anderen Geburtshelfern und den Institutionen, in denen sie wirkten. Das gilt vor allem für die Entbindungsanstalt der Universität Göttingen, an der Stein durch Johann Georg Roederer (1726–1763) seine Ausbildung erhalten hatte.

Nach der Einleitung wird zunächst Steins Lebensweg bis zu seiner Berufung als Professor an die kleine, aber prominent besetzte Kasseler Hochschule, das Collegium Carolinum, im Jahre 1761 dargestellt (S. 27–52). Vor allem geht es um sein Studium in Göttingen und die anschließende „gelehrte Reise“ in die westeuropäischen Zentren der Medizin, besonders der Geburtshilfe: Straßburg, Paris und Leiden. Das folgende umfangreichste Kapitel behandelt Steins Wirken in Kassel (S. 53–146), vor allem im Entbindungshaus (damals oft mit dem französischen Wort Accouchierhaus genannt), aber auch als Mitglied des Collegium Medicum, der obersten Gesundheitsbehörde der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Ebenso kommen Steins engagierte Tätigkeit in der Freimaurerei und einige seiner Freundschaften zur Sprache. Anschließend wendet sich die Verfasserin Steins Veröffentlichungen zu, den wichtigsten Inhalten seiner Lehre und seinen Erfindungen (S. 147–216). Es folgt ein kurzer, aber interessanter Abschnitt zu der Frage, wie Stein als männlicher Geburtshelfer mit den Frauen umging, die seine Patientinnen wurden (S. 217–235). Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Steins Wirken an der Universität Marburg, wohin er 1791 versetzt wurde (S. 237–241). Leider ist die Abbildung der ersten Seite seines Testaments (S. 240) so schlecht, dass man es kaum entziffern kann. Im Anhang wird eine – etwas holprig zu lesende – deutsche Übersetzung der lateinischen Gedächtnisrede geboten, die ein Professorenkollege 1803 auf Stein hielt (S. 249–254).

Die Arbeit kommt zu einer Reihe von bemerkenswerten Ergebnissen, die das Bild von der Geburtshilfe in der Umbruchszeit des späten 18. Jahrhunderts bereichern und differenzieren. Das 1763 eröffnete Kasseler Entbindungshaus gehörte mit mehr als 100 Geburten pro Jahr (in den 1770er-Jahren) zu den geburtenstärksten im deutschsprachigen Raum, bevor 1784 das Allgemeine Krankenhaus in Wien mit seiner weit größeren Gebärabteilung die Pforten öffnete. Wie alle Einrichtungen dieser Art auf dem europäischen Kontinent wurde das Kasseler Haus nahezu ausschließlich von armen unehelich Schwangeren aufgesucht. Seine Anziehungskraft beruhte vor allem darauf, dass es mit einem Findelhaus verbunden war; die entbundenen Frauen konnten also ohne Kind in ihre Heimat oder an ihre Arbeitsstelle zurückkehren. Die Kombination eines Geburtshospitals mit einem Findelhaus war in katholischen Ländern häufig, im protestantischen Norden Deutschlands jedoch die Ausnahme; hier verwies man auf die exorbitante Säuglings- und Kindersterblichkeit der Findelhäuser, die auch in Kassel festzustellen ist. Als das Kasseler Findelhaus in den 1780er-Jahren wegen Überfüllung die Aufnahme einschränkte, nahm auch der Zustrom von Schwangeren in das Accouchierhaus ab, und 1787 wurden beide Einrichtungen geschlossen (S. 66ff., 70ff., 75ff.).

Auffallend an der Praxis des so bedeutenden Kasseler Entbindungshauses ist, wie begrenzt die Präsenz seines ärztlichen Direktors Stein war. Das stellt Lükewille im Anschluss an einen grundlegenden Aufsatz von Christine Vanja fest.1 Den nur für die 1770er-Jahre erhaltenen Registern zufolge leitete Stein 7 Prozent der Entbindungen in seinem Accouchierhaus; etwas größer war die Zahl der Geburten, die ein anderer Arzt oder Chirurg betreute. doch 83 Prozent lagen in der Hand von Hebammen, meist der Haushebamme, über die freilich so gut wie nichts bekannt ist (S. 74f., 78f.). Dieser Befund steht in scharfem Kontrast zu dem Entbindungshospital der Universität Göttingen, jedenfalls in der Zeit 1792–1822, als es von Steins Schüler Friedrich Benjamin Osiander geleitet wurde: Er rühmte sich nicht ohne Grund, bei fast jeder Entbindung in seinem Hause zugegen zu sein.2 Steins begrenzte Präsenz in seiner Anstalt entspricht jedoch den Befunden des großen Pariser Geburtshospitals; hier wie dort wurde der ärztliche Direktor meist nur tätig, wenn die Hebamme ihn wegen Komplikationen zu Hilfe rief.3

Wahrscheinlich war Stein sehr viel mehr mit der Privatpraxis bei zahlungskräftigen Gebärenden beschäftigt. Aufgrund seines Rufs wurde er des Öfteren zu hohen Damen auch außerhalb von Hessen-Kassel bestellt (S. 74f.). Diese Tätigkeit ist in den Quellen allerdings nur sporadisch erwähnt. Doch berichtet Stein allgemein, dass es seit den 1770er-Jahren üblicher wurde, dass Frauen von Stand sich selbst bei natürlichen Geburten von einem männlichen Accoucheur entbinden ließen (S. 55). Auf der anderen Seite standen freilich adelige Damen, die ausschließlich von einer Hebamme ihres Vertrauens betreut werden wollten (S. 221, 225).

Steins Lehre wird nicht nur aufgrund seiner Lehrbücher, sondern auch aufgrund der Vorlesungsverzeichnisse dargestellt (S. 79–128). Die Zahl der Studenten am Collegium Carolinum war klein; aus diesem Grund wurden die meisten Professoren ab 1785 an die Universität Marburg versetzt und das Collegium 1791 geschlossen. Für Stein scheinen die Privatissima wichtiger gewesen zu sein, sie brachten auch weit höhere Honorare ein. Zu diesem Teil des Unterrichts fehlen umfassende Quellen; belegt ist jedoch, dass sich nicht wenige Mediziner nach ihrem Universitätsstudium für einige Wochen oder Monate unter Steins Anleitung in der praktischen Geburtshilfe übten.

Was die offizielle Lehre am Entbindungshaus betrifft, so betonte Stein, dass angehende Mediziner und Hebammenschülerinnen gleichermaßen unterrichtet wurden (S. 84, 113). Lükewille hat jedoch eine archivalische Quelle gefunden, die für einen begrenzten Zeitraum belegt, dass die Studenten pro Kopf wesentlich mehr Geburten betreuen konnten als die künftigen Hebammen (S. 91). Interessanterweise war es am Göttinger Universitäts-Geburtshospital genau umgekehrt: Sein Direktor, Steins Schüler Osiander, wurde nicht müde hervorzuheben, dass der Hauptzweck seiner Anstalt die Ausbildung von Medizinstudenten war, der Hebammenunterricht erst an zweiter Stelle kam. Trotzdem durften die Hebammenschülerinnen pro Kopf deutlich mehr Entbindungen besorgen als die jungen Männer.4

Mit Nachdruck betonte Stein, dass er sein – relativ neues – Fach als „Wissenschaft“ behandeln wolle, nicht als bloße „Kunst“ wie die Hebammen. Sein Ziel war, es in seinem Lehrbuch „in einer systematischen Gestalt“ darzustellen und „scientivisch“ zu lehren. Das bedeutete für ihn, es auf die Mathematik und Physik, besonders die Mechanik, zu gründen. So war es konsequent, dass er sich mit der Erfindung mehrerer Geräte der Fachöffentlichkeit präsentierte. Vor allem handelte es sich um Messinstrumente, mit denen der Innen-Durchmesser und die Neigung des Beckens sowie der Umfang des Kindskopfes, möglichst schon unter der Geburt, ermittelt werden sollten. Gestützt auf solche empirischen Daten wollte Stein Normen definieren und aus ihnen die Indikationsstellung des Geburtsmodus – natürliche Geburt, Zange oder Kaiserschnitt – herleiten. So beeindruckend dieser Ansatz erscheint, schon einige Zeitgenossen, mehr noch die nächste Generation im Fach, fanden, dass die Messgeräte keine präziseren Ergebnisse lieferten als die manuelle Untersuchung. Auch tadelten sie, dass Stein die Geburt, insbesondere die Größenverhältnisse von mütterlichem Becken und Kindskopf, nur statisch-mechanisch betrachtete, die Dynamik des Geburtsprozesses, die Veränderungen unter den Kräften der Wehen vernachlässigte. Hinzu kam, und dessen war sich Stein selbst bewusst, dass einige seiner Geräte nur den Gratispatientinnen im Hospital, nicht aber dem Scham- und Schmerzempfingen von zahlenden Gebärenden zuzumuten waren (S. 154–185).

In klarem Stil argumentiert Lükewille durchweg plausibel und wägt ihr Urteil sorgfältig. Die Medizinerin neigt nicht der überkommenen Erfolgshistorie des Faches zu. Sie widersteht auch der Versuchung, Steins Handeln und seine Grundsätze ständig an heutigen Maßstäben zu messen. Vielmehr zieht sie zur Einordnung die Urteile der Zeitgenossen und der unmittelbar folgenden Generation heran. Wohl weist sie bei einzelnen Themen auf aktuelle Debatten hin, zum Beispiel bei Steins Lehre von den Gebärpositionen: Er argumentierte für die Variabilität der Positionen, sie sollten sich dem Fortgang des Geburtsprozesses und den individuellen Bedürfnissen der Frau anpassen (S. 102f., 200ff.). Insgesamt: ein lesenswerter Beitrag zur Geschichte der Geburtshilfe und der Geburt im Zeitalter der Aufklärung.

Anmerkungen:
1 Christine Vanja, Das Kasseler Accouchier- und Findelhaus 1763–1787, in: Jürgen Schlumbohm / Claudia Wiesemann (Hrsg.), Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850, Göttingen 2004, S. 96–126.
2 Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012, S. 172ff.
3 Scarlett Beauvalet-Boutouyrie, Die Chef-Hebamme, in: Jürgen Schlumbohm u.a. (Hrsg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, S. 221–241.
4 Schlumbohm, Phantome, S. 159, 179f.

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